Gemeinsame Begegnung am 8. Mai

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

vor 77 Jahren wurde der Zweite Weltkrieg beendet. Unsere Stadt hatte Glück, dass ihr das Schicksal anderer Städte, z. B. der mit uns verbundenen Stadt Luban (Lauban), der nahezu vollkommenen Zerstörung erspart geblieben ist. Es war aber nicht nur Glück allein, sondern es waren vielmehr mutige und couragierte Kamenzer, die damals bereit waren, für die Erhaltung ihrer Stadt ihr Leben zu riskieren. An jene sollten wir in den nächsten Tagen auch besonders denken. Im Rathauseingang wird in knapper Form an die Geschehnisse vor 77 Jahren erinnert.

Heute ist es leider wieder so weit. Es braucht couragierte Männer und Frauen, wie die Journalistin Alice Schwarzer, wie die Theologin Antje Vollmer, wie den Filmemacher Andreas Dresen oder wie den Schauspieler Lars Eidinger, die sich gegen den Druck einer „eskalierenden Aufrüstung und den Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit möglicherweise katastrophalen Konsequenzen“ wenden.

Wer in dieser Zeit in dieser Weise eine Position bezieht, so wie es die Erstunterzeichner getan haben, der wird leider mit dem Vorwurf der Putinversteherin/des Putinverstehers und einer vermeintlichen Ignoranz gegenüber den Interessen unserer östlichen Nachbarn konfrontiert. Sie sind derartigen Versuchen und Angriffen in diesem politisch einseitig geführten Diskurs ausgesetzt.

Mehr als 140.000 Menschen haben den offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz vom 29. April 2022 unterzeichnet. Wir können uns – bei allem Für und Wider – diesem Aufruf anschließen und dazu auch den kommenden 8. Mai im Rahmen einer gemeinsamen Begegnung am sowjetischen Grab- und Ehrenmal um 10 Uhr in unserer Lessingstadt nutzen. Was sehr viele Menschen – vielleicht sogar die meisten – vereint, ist der Gedanke: „Lasst endlich wieder Frieden sein!“.

Ihr

Roland Dantz

Oberbürgermeister

der Lessingstadt Kamenz

Nichts dazu gelernt? - Könnte man meinen!

Am 25. April 1945 trafen sich in Kreinitz bei Strehla an der Elbe amerikanische und sowjetische Soldaten. Das berühmte Bild mit dem Händedruck zwischen Rotarmisten und US-Soldaten auf der zerstörten Elbbrücke bei Torgau entstand einen Tag später. Es waren schon damals vor mehr als 77 Jahren seltsame Verbündete. Sie waren sich einig – und das aus meiner Sicht auch nach wie vor zu Recht –, dass die Barbarei der NS-Zeit und das daraus entstandene Morden ein Ende haben musste.

Als ich am vergangenen Sonntag in der Kirche in Kreinitz Filmaufnahmen sah, die vor 77 Jahren entstanden sind, da habe ich mich wirklich gefragt, was wir hier in Westeuropa dazugelernt haben.

Wir wissen heute, dass die Briten und die Amerikaner sehr lange gezögert hatten, mit der damaligen Sowjetunion ein Bündnis einzugehen. Es prallten – im wahrsten Sinne des Wortes – zwei Systeme aufeinander. Das von Stalin und seinem totalitären Machtanspruch geprägte Sowjetrussland auf der einen Seite und das der von spätkapitalistischen mit ihren imperialistischen Zielsetzungen bestimmten Demokratien Westeuropas und Amerikas auf der anderen Seite. Um es einfach zu sagen, es waren schon damals vor mehr als 80 Jahren keine Übereinstimmungen der „Werte“, wie wir sie heute verstehen, zu verzeichnen. Ein Ergebnis war, dass aus dem heißen am 8. Mai 1945 beendeten 2. Weltkrieg in kurzer Zeit ein sogenannter kalter Krieg wurde. Wenn man dies überhaupt so sagen kann.

So zumindest entstand in Europa ein Gefüge von zwei sich völlig konträr gegenüberstehenden Systemen. Und es entstand ein Gefüge wechselseitiger Interessen, die zumindest strategisch über die Auseinandersetzungen 1956 in Ungarn, über die Kubakrise hin bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings und letztendlich zu den Freiheitsbewegungen in den 1970/80er Jahren in Polen zur Deutschen Wiedervereinigung führten. Das vielleicht wichtigste Ergebnis war aber darin zu sehen, dass für einer sehr, sehr lange Zeit in Europa Frieden herrschte. Nun kann man darüber unterschiedlicher Meinung sein. Aber noch nie ist mir das in den letzten Jahren so klar geworden, wie kurz vor dem bevorstehenden 8. Mai. Wir Deutschen, unsere Eltern und Großeltern, haben – erzwungenermaßen –verstehen müssen, dass es um den Preis eines langen Friedens notwendig war, die Interessen von Großmächten, von anderen Staaten zu respektieren. Wer dies außer Acht lässt und auf der Ebene wertegeleiteter Politik direkte Einmischungen, so begründet sie auch sein mögen, rechtfertigt, jener riskiert nicht mehr oder weniger einen Krieg, der uns unmittelbar betreffen kann. Umso mehr unterstütze ich die bisher abwägende und überlegte Herangehensweise unseres Bundeskanzlers Olaf Scholz und des Vorsitzenden des SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich.

Sowjetischen Grab- und Ehrenmal am Sonntag, den 8. Mai 2022 um 10:00 Uhr

Der kommende 8. Mai fällt auf einen Sonntag. Ich will Sie gern einladen, dass wir am Sowjetischen Ehrenmal der Ereignisse vor mehr als 77 Jahren gedenken. Es ist dann auch ein Tag, inne zu halten, um alle Opfer – auch die eigenen – in den Blick zu nehmen. Und es ist auch eine gute Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen, um die Dinge, die in den letzten Wochen geschehen sind, zu hinterfragen oder um zu erkennen, wo die Gründe dafür zu suchen sind.

Zu Beginn meines Textes habe ich die Frage aufgeworfen „Nichts dazu gelernt?“. Das zieht dann nach sich, dass das möglicherweise sogar ganz objektiv so ist. Es ist zunächst natürlicherweise daraus zu erklärten ist., dass jene, die als Erwachsene die Schrecken des II. Weltkrieges erleben und ertragen mussten, heute längst tot sind. Die, die als Kinder von der Gewalt des Krieges heimgesucht wurden, sind heute zum Teil mehr als 80 Jahre alt. Aber auch hier sind die Allermeisten schon verstorben und damit zeigt sich in dramatischer Weise ein Problem. Jene, die heute im Alter von ca. 40 Jahren (mehr oder weniger) an die Schalthebel der Macht gekommen sind, haben diese Zeit, die wir Jahr für Jahr erneut zu begreifen versuchen, natürlich nicht selbst erlebt. Die Wenigsten kennen diese Zeit auch nur vom „Hören-Sagen“ und umso wichtiger ist es, dass wir uns Geschichte, Zusammenhänge, politische Geschichte, dass wir uns diese Zusammenhänge aus den unterschiedlichsten Perspektiven klar machen. Was helfen kann ist der Versuch, Mechanismen der Macht, der Propaganda und des Einflusses zu verstehen. Das Einzige, was es dann und dazu braucht, ist Aufklärung.

Roland Dantz

Oberbürgermeister der Lessingstadt Kamenz

 

PS: Am 25. April 1945 reichten sich Amerikaner und Russen bei Kreinitz an der Elbe die Hände. 1990 stimmte die Sowjetunion der deutschen Wiedervereinigung zu. 1993 zog die Sowjetarmee aus Deutschland ab. Es fiel kein Schuss. Im Jahr 2001 streckte der russische Präsident Wladimir Putin im Deutschen Bundestag vor den Augen der Welt erneut die Hand aus. Was ist daraus geworden?

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