Vom Umgang mit ost- deutscher Geschichte heute

Können sich 85 Prozent irren?

Über den Umgang mit Lebensleistungen von Ostdeutschen – die Geschichte einer Kränkung

Grundsätzlich ist es möglich, dass eine Mehrheit von Lesern im Ergebnis einer Umfrage auch falsch liegen kann. Nachdem sich 750 Leserinnen und Leser der Mitteldeutschen Zeitung an einer Online- Umfrage beteiligt hatten und sich 85% für die erneute Namensgebung – Sigmund Jähn – aussprachen, ist ein Irrtum nicht unbedingt anzunehmen.

Vielleicht geht es auch um die Frage, was sich hinter dieser Auseinandersetzung tatsächlich verbirgt?

Wie sieht es tatsächlich aus mit der Anerkennung von Lebensleistungen Ostdeutscher, vor allem ostdeutscher Verantwortungsträger?

Schon aus diesem Grund habe ich mit Interesse die Situation in Halle – oder besser gesagt, die sich in Halle anbahnte – verfolgt. Es ging dabei um die Frage, dass ein neu errichtetes Planetarium wieder den Namen von Sigmund Jähn erhalten sollte. Diesen Namen hatte das vorhergehende Planetarium, welches bei einem Hochwasser zerstört worden war, seit 1978 getragen. Eine gute Zusammenfassung des Vorgangs findet sich in der Sächsischen Zeitung vom 24. Februar 2021, die mich um eine Position gebeten hatte, da letztendlich der Hallenser Stadtrat entschieden hat, dass das in Frage stehende Gebäude den Namen „Planetarium Halle“ tragen soll. Der Anlass zwingt mich geradezu zu einer grundlegenden Betrachtung, die aus Platzgründen nachvollziehbarerweise in der Sächsischen Zeitung in diesem Umfang nicht veröffentlicht werden kann.

Aber der eigentlich wichtigste Grund ist der, dass ich mehrfach die Gelegenheit hatte, Generalmajor Sigmund Jähn kennenzulernen. Lassen Sie mich diese Begegnungen voranstellen und sie können sich selber ein Bild machen - vom Menschen Sigmund Jähn.

Im Jahr 2008 trafen wir uns das erste Mal. Wir standen im jetzigen Verwaltungszentrum und feierten den Abschluss der Umnutzung des Areals der früheren Offiziershochschule der Luftstreitkräfte/ Luftverteidigung zum Verwaltungszentrum. Es war unglaublich was los. Der damalige Ministerpräsident des Freistaates, Professor Georg Milbradt, ließ es sich nicht nehmen, ehemalige Offiziere der NVA zu diesem denkwürdigen Augenblick einzuladen. Es war in einer Zeit, als der Riss, der durch die deutsche Wiedervereinigung entstand war, der Riss zwischen ehemaligen Offizieren der NVA und den Landes- und Kommunalpolitikern, die dann nach der politischen Wende Verantwortung trugen, immer noch sichtbar war. Dazu muss man wissen, dass meiner Erinnerung nach es eher durch Regelung des Einigungsvertrages untersagt war, die Offiziere mit ihrem militärischen Rang anzusprechen. Und was macht der damalige Ministerpräsident: Er begrüßt u.a. Sigmund Jähn und einige seiner Begleiter mit dem jeweiligen militärischen Rang, den sie sich in der Zeit der DDR erarbeitet bzw. erworben hatten. Was für eine Geste der Versöhnung! Unter den Gästen waren am 22. Februar 2008 auch Angehörige der Bundeswehr. Und es war eine besondere Überraschung, dass der erste Deutsche im All, Generalmajor Sigmund Jähn, vom Ministerpräsidenten des Freistaates mit der Aufstellung einer Büste im Statistischen Landesamt und darüber hinaus für jedermann sichtbar im Außengelände am Kreuzungsbereich Macherstraße/Siedlungsweg geehrt wurde. Was für ein starkes Zeichen vor mehr als dreizehn Jahren! Allerdings kann ich mich auch daran erinnern, dass diese Art der Ehrung ihm eher beinahe unangenehm schien.  Er wollte vermeiden – um es einfach auszudrücken –, dass so ein „Gewese“ um seine Person gemacht wird. Es ist vielleicht nicht unwichtig, dass an dieser Stelle zu erwähnen, weil es natürlich auch Menschen gibt, die gerade in der heutigen Zeit von ihrer vermeintlich eigenen Bedeutung so beeindruckt sind, dass sie kaum noch „geradeaus gehen“ können. Und genau diese Bescheidenheit, Zugänglichkeit und Offenheit, gerade diese Eigenschaften haben die Menschen hier bemerkt.

Die zweite Begegnung in Kamenz fand im Rahmen eines Treffens der „Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte“ e.V. 2011 statt: Bemerkenswert war hier, dass dieser Verein, der ausdrücklich von Sigmund Jähn unterstützt wurde, seine Aufgaben darin sah, die Piloten, die Flieger und letztendlich die Militärangehörigen beider deutscher Armeen zusammenzubringen. Anwesend waren auch ehemalige Piloten der Bundeswehr, u.a. General Vogler. Dies gelang in einer sehr beeindruckenden Weise, weil sich die Weggefährten Oberst a.D. Gerhard Fiß (Offizier und Jagdflieger der NVA) und Oberst a.D. Dr. Herbert Bellanger um das Treffen in Kamenz gekümmert hatten.

Die dritte Episode fällt in das Jahr 2014: Ich will im Sinne der Antwort auf die Entscheidung des Hallenser Stadtrates auf ein bemerkenswertes Treffen der „Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte“ e.V. in Morgenröthe-Rautenkranz eingehen. General der Bundeswehr a.D. Peter Vogler und Generalmajor Sigmund Jähn hatten meine Frau und mich persönlich zu diesem Treffen eingeladen.

Wir waren zuvor noch nie in dieser Raumfahrtausstellung und trafen uns mit Generalmajor Jähn auf dem Parkplatz des Ausstellungskomplexes, der ziemlich gefüllt war. Plötzlich hielt ein voller Reisebus. Die Leute stiegen aus, sehen Generalmajor Jähn, ihren „Sigi“, und mich und dann hatte man das Gefühl, in Morgenröthe-Rautenkranz ist man einem Popstar begegnet. Eine Menschentraube umringte ihn plötzlich. Es war geradezu rührend, wie er Jahrzehnte später nach seinem Flug ins All von den Leuten angesprochen und in „Besitz“ genommen wurde. Es ist doch außerordentlich beachtlich, wenn jemand wie Sigmund Jähn, der seinen Flug in den Kosmos 1978 vollbrachte, nach 36 Jahren noch immer in dieser Weise wahrgenommen wird.

Generalmajor Jähn führte uns dann persönlich durch die Ausstellung, erklärte uns ein paar Finessen und Besonderheiten, die zur Sojus-Kapsel gehörten und plötzlich – wir standen im Erdgeschoss der Ausstellungshalle – kamen zwei „wirkliche Bullen – Kerle, wie Bäume“ auf uns zu, verwegene Burschen, Harley-Fahrer und fragten ganz höflich Sigmund Jähn, ob sie ein Foto mit ihm bekommen könnten. Er ließ sich nicht lange bitten. Da stand der vielleicht 1,70 m große Mann zwischen den nahezu 2-Meter-Riesen und ich habe damals gespürt, was Beliebtheit und Sympathie eigentlich bedeuten.

Und jetzt zu Halle: Natürlich ist es die Sache des Hallenser Stadtrates, zu entscheiden. Und ich sage eher nichts zu Entscheidungen, die andere in anderen Städten treffen. Aber wenn Sie mich so fragen, ob z.B. „auch Kamenz Sigmund Jähn vom Sockel stürzen“ würde, dann will ich Ihnen als Oberbürgermeister unserer Stadt klar antworten. Wer das versuchen würde, der kann es auch probieren, mit dem Kopf zuerst durch die Granit-Mönchsmauer in Kamenz zu rennen. Viele Kamenzer haben Sigmund Jähn ins Herz geschlossen und es stellt sich die Frage: Warum? Die Antwort ist simpel, weil er etwas Denkwürdiges vollbracht hat und weil er immer ein einfacher und äußerst bescheidener Mensch geblieben ist. Und offensichtlich haben die „Richter“ in Halle keinerlei Kenntnis und Ahnung, was er nach der Wende im Sinne des „sich Handreichens“ zwischen ehemaligen Offizieren der NVA und ihren früheren Gegnern, den ehemaligen Offizieren der Bundeswehr, vollbracht hat.

Er wurde auch deswegen so geschätzt, weil er zu seinem Leben stand und weil er bis zu seinem Lebensende für das dankbar blieb, was ihm in dieser Hinsicht sein – lassen Sie mich es so sagen – Vaterland ermöglicht hatte. Das konnte man in seinen Gesprächen spüren. Man musste auch seine Betrachtung nicht vollständig teilen, aber aus seiner persönlichen Sicht war dies ehrenvoll, geradlinig und authentisch.

Wenn nun die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, der Meinung ist, dass man die Benennung des Planetariums in Halle – was ja schon seinen Namen trug – durch Fortschreibung des Geschichtsbildes von Sigmund Jähn im gewissen Sinne als geschichtliche Lüge dargestellt und sie sich damit gegen die erneute Namensvergabe stellt und dann noch behauptet, sie beabsichtige keinesfalls mit ihrer Sicht jemanden zu verletzen, dann hat sie dies als Theologin in geradezu „herausragender“ Weise vollbracht.

Und so ist es eben. Wer den Splitter im Auge des anderen sieht oder zu sehen glaubt, sieht den Balken im eigenen Auge oftmals nicht. Dort, wo Versöhnung möglich war, entstand durch das Zutun von einigen nur das Gefühl der Rache, des Ausradierens von Personen und deren Leistung, des Auslöschens von Identitätsankern.

Sigmund Jähn war der erste Deutsche im All, genauso wie Juri Gagarin der erste Mensch bleibt, der in den Weltraum flog. Aus heutiger Sicht ist es doch eher eine Ironie – nach der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes –, dass schon in der damaligen DDR vom ersten Deutschen im All geschrieben und gesprochen wurde. Dies war nun mal in diesem Fall ein Bürger der DDR.  Man könnte ja auch sagen, welcher „Weitblick“.

Der erste Deutsche im All war Sigmund Jähn

Sigmund Jähn, Jahrgang 1937, gehörte zu den Menschen, die das Kriegsende als Kind und die Jahre der Zerstörung miterlebt haben. Er kam aus sehr einfachen Verhältnissen. Deutschland hatte nach dem Kriegsende seine Souveränität verloren und erst mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag 1990 bzw. 1991 zurückerlangt. Deutschland war bis dahin geteilt und im damaligen Ostdeutschland hatte die Sowjetunion das Sagen. Dass sich Menschen in dieser Weise auch einem Ideal verschrieben haben, in dem tiefen Ansatz, an einer „besseren“ Welt mitzuwirken, dafür gibt es in der Geschichte unendlich viele Beispiele. Von daher ist der Versuch von Frau Neumann-Becker, Sigmund Jähn, sein Leben, seine Lebensleistung aus der Zeit, in der er lebte, besonders die Zeit zwischen 1949 und 1990 eindimensional herauszulösen, dieser Versuch ist durchschaubar. Es ist auch geradezu zynisch, im Wissen, dass eine große Mehrheit der Ostdeutschen dies anders sieht, zu behaupten, dass Sigmund Jähn ausschließlich ein Repräsentant der „SED-Diktatur“ gewesen sei. In der Pressemitteilung der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom 21.12.2020 ist nicht ansatzweise ein Abwägungsprozess und der Wille zur Differenzierung erkennbar. Wer so, wie Frau Neumann-Becker, an die Bewertung von Personen und deren Lebensleistung herangeht, nun der sollte sich als Theologe/Theologin schon fragen lassen, ob es denn mit unserem Demokratie- und Freiheitsverständnis, mit unseren humanistischen Wertevorstellungen vereinbar ist, eine Universität nach dem Reformator Martin Luther zu benennen, der u.a. zweifelsfrei mit der Übersetzung des Alten und  Neuen Testamentes eine große Lebensleistung vollbracht hat, aber der nie von seinem boshaften Judenhass, von seinen frauenfeindlichen Äußerungen Abstand genommen hat. Sie blieben bis zu seinem Lebensende Teil seiner theologischen Überzeugung und seines Glaubens.

Für den Umgang mit Geschichte, mit Lebensleistung gibt es auch nah bei uns in Großröhrsdorf ein Beispiel, von dem die „Verfolgerin“ etwas lernen könnte. Die Namensgebung für das kreisliche Gymnasium mit „Ferdinand Sauerbruch“ war ebenfalls umstritten. Und nicht einmal zu Unrecht. Professor Ferdinand Sauerbruch war ein hochdekorierter Vertreter der NS-Zeit. Aber er war eben auch ein hervorragender Chirurg und Arzt. Und diese Leistung stand innerhalb der Diskussion im Vordergrund, was nach sich zog, dass die, die sich mit der Namensverleihung beschäftigten, die darüber zu entscheiden hatten, dass Für und Wider betrachtet haben.

Die Einschätzung von Frau Neumann-Becker kommt einem Urteil gleich, das eigentlich schon feststand, bevor es geschrieben wurde. Offensichtlich fühlte sie sich in der Rolle, gleichermaßen „Anklägerin“ und „Richterin“ zu sein, ausgesprochen wohl. Die Rolle des „Nathan“ einzunehmen, schließt sie für sich als Theologin offensichtlich aus. Was bleibt dann in diesem Rollenspiel eigentlich noch übrig – die Figur des Patriarchen? Dann ist ihr Handeln und Denken verständlich, denn es bedeutet, es ist ihr völlig egal, wie eine Mehrheit darüber denkt – frei nach Lessing: „Macht nichts, das Symbol muss weg!“ Und sie blendet damit auch aus, dass sich lange Zeit sehr, sehr viele Menschen in der Zeit zwischen 1949 und 1989 auch eingebracht haben, eingerichtet hatten und einfach versucht haben, ihr Leben zu leben. Und als die Zeit heran war, waren sie bereit, für eine friedliche Veränderung einzutreten. Dass dies friedlich geschah, wird noch heute als „Wunder“ bezeichnet. Es hat aber auch damit zu tun – und dies ist heute bekannt –, dass viele Offiziere und Generäle der NVA letztlich nicht bereit waren, die Waffen gegen das eigene Volk zu richten. Auch dafür dürfen wir dankbar sein. Und insofern wäre es auch aus dieser Sicht eine Geste der Anerkennung und Versöhnung für viele ehemalige Militärangehörige der NVA gewesen. Dazu hätte der Hallenser Stadtrat einen Beitrag leisten können. Es ist damit eher eine verpasste Chance über das, was in den letzten mehr als 75 Jahren geschah, nachzudenken bzw. darüber zu reden und sich die Frage nach dem „Warum Dinge geschehen sind?“ zu stellen.

Generalmajor Sigmund Jähn ist bisher der Einzige, der sich zwei Mal in das Goldene Buch unserer Stadt eingetragen hat. Die erste Eintragung stammt aus dem Jahr 1979 und die zweite – wie schon beschrieben – aus dem Jahr 2008. Und erinnern wir uns an den August 2019, als er es sich nicht nehmen ließ, die Einladung zum Kamenzer Forstfest anzunehmen. Da stand er, nachdem er schon 2011 am Festumzug anlässlich des 20. Tages der Sachsen teilgenommen und dort von vielen geradezu euphorisch begrüßt wurde, auf dem Balkon unseres Rathauses und als ihn eine Schulleiterin als Gast unseres Forstfestes ankündigte, brandete ein Riesenbeifall auf. Was wir damals nicht ahnen konnten, dass er kurze Zeit später verstarb.

Um was es geht?

Es geht um die Frage, besondere Lebensleistungen, sagen wir ruhig Verdienste anzuerkennen. An der Person von Sigmund Jähn kann man auch erkennen, dass mit Fleiß und Beharrlichkeit Lebensziele erreicht werden können. Und dass, wenn man bodenständig und nahbar bleibt, eine Beliebtheit Jahrzehnte andauern kann. Dazu gehört, dass zu einem Leben auch Widersprüche gehören. Was ist daran so schwer zu verstehen?

Roland Dantz

Oberbürgermeister

PS:

Ich habe mal Tschechen gefragt, wer der erste tschechische Kosmonaut war. Es konnte mir keiner sagen. Und das macht die Besonderheit, den Unterschied aus. Generalmajor a. D. Sigmund Jähn war der erste Deutsche im All und das wissen die meisten im Osten Deutschlands bis heute.

25.03.2021

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