Jana Simon - 7. Kamenzer Rede in St. Annen

Die Veranstaltungsreihe „Kamenzer Reden in St. Annen“ fand auch unter schwierigen Corona-Bedingungen statt. Dies wirkte sich besonders hinsichtlich der zugelassenen Besucher aus. Nur knapp 100 Zuhörer konnten anwesend sein, obwohl die Nachfrage viel größer war. (Bild 1) Was verständlich ist, erfreut sich doch diese Redereihe eines hervorragenden Rufes. Auf Friedrich Schorlemmer, Feridun Zaimoglu, Jörg Bernig, Eva Menasse, Volker Braun und Hans-Eckardt Wenzel folgte nun als siebente Rednerin die Journalistin und Autorin Jana Simon. Und sie passte perfekt in das seit 2014 von der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption konzipierte und organisierte Redeformat, dass sich als Angebot versteht, in aktuelle Debatten einzugreifen, diese zu reflektieren und ganz im Lessing’schen Sinne eine von Respekt und Anerkennung getragene Streitkultur zu erzeugen. Nicht nur wegen dieser erfolgreichen Veranstaltungsreihe ist die vom Freistaat und Bund finanzierte Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption – eine für die Bundesrepublik Deutschland einzigartige Einrichtung – ein Glücksfall für Kamenz.

Der Prozess der deutschen Einheit bedarf der Verständigung

In seinen Eröffnungsworten stellte Oberbürgermeister Roland Dantz (Bild 2) darauf ab, dass eine offene und demokratische Gesellschaft die Kommunikation, das Gespräch, ja auch den Streit gegensätzlicher Positionen braucht, um lebendig zu bleiben – und das gerade auch im 31. Jahr nach der Wende und anlässlich der 30. Wiederkehr der deutschen Vereinigung in diesem Jahr. Als ein Beispiel, was dafür in Schulen getan wird, hielt er ein Hinweisblatt einer Ethiklehrerin an einer Grundschule ins Publikum, das sich an Schüler richtete und in dem Regeln zum gesitteten Gespräch enthalten waren. U.a. zitierte er daraus: „Wir hören einander zu. (…) Wir fallen niemanden ins Wort. Wir lachen keinen aus. (…) Nur die Meinung wird bewertet. Behauptungen müssen begründet werden.“ Eigentlich, so Dantz, ein hoffnungsvolles Zeichen, so angesprochen, erzogen und gebildet zu werden in Zeiten, die, besonders in den sozialen Medien, mitunter von anderen Wirklichkeiten geprägt sind.

Moderiert wurde die diesjährige Veranstaltung in bewährter Weise von Michael Hametner. Er knüpfte dabei an die Worte des Oberbürgermeisters an, indem er die Kamenzer Reden als eine Gesprächsplattform ansieht, auf der aktuell die Fragen gestellt werden, wie es um die deutsche Einheit bestellt sei. „Ist sie vollzogen?“, so Hametner, „Ist sie gelungen, gar geglückt?“ Für ihn sehe es im Jahr 2020 so aus, dass Deutschland noch nicht gleichberechtigt vereint sei, aber erneut gespalten. Insofern komme Jana Simon mit ihren Reportagen sowie Büchern und auch mit der heutigen Rede im rechten Moment. Denn sie stemmt sich gegen die gegenwärtigen Verwerfungen und die sich abzeichnenden Spaltungen. Mit ihrem Wahrheitsethos, ihrer Sprachgabe und ihrer genauen Nachzeichnung, was ist, vergegenwärtigt sie menschliche Schicksale und Situationen in Deutschland. Sie verstummt nicht, führt Hametner aus, sondern hat die Hoffnung, dass es, bei allem Trennenden, noch so viel Gemeinsamkeiten gibt, dass es sich lohnt miteinander zu reden – ja, dass im Jahr 2020 geradezu existenziell die Pflicht dazu besteht. Auch dies solle die Rede „Was hält uns noch zusammen“ heute in Kamenz verdeutlichen.

In der Biografie spiegelt sich die Welt – Über den Dialog mit Gleichgesinnten und Andersdenkenden

Zu Beginn ihrer Rede schildert Jana Simon (Bild 3), wie und warum ihr Wunsch, Journalistin zu werden, entstand. 1989 lebt sie in der DDR und ist damals 17 Jahre alt. Sie spürt als Jugendliche sehr deutlich, dass das ideologische Freund-Feind-Schema, welches die einen und deren Situation – unter Weglassung aller Widersprüche – in der positivsten aller Gegenwarten leben lässt und die anderen verteufelt, auch sichtbar nicht mehr tragfähig ist. Genau in diese Zeit des Umbruchs fällt ihre Lektüre eines Buches der italienischen Journalisten und Schriftstellerin Oriana Fallaci. Diese hatte in den Jahre 1967/68 US-amerikanische Kampfeinsätze in Vietnam begleitet und diese Erlebnisse in Form eines Tagebuches mit dem Titel „Wir, Engel und Bestien“ 1969 veröffentlicht. Dass Entscheidende für Jana Simon war dabei, dass Fallaci dabei mit ausnahmslos allen am Krieg Beteiligten geredet hat. Dieses Credo ist für die deutsche Journalistin noch heute gültig, was auch die Auswahl der Menschen für ihr Buch „Unter Druck. Wie sich Deutschland verändert“ zeigt – vom frühere EZB-Direktor und ehemalige SPD-Staatssekretär Jörg Asmussen, einem Polizisten aus Thüringen, der die Aufklärung des NSU-Affäre ernst nimmt, einer alleinerziehenden Krankenschwester, die angesichts der Flüchtlingskrise verbittert, bis hin zum AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland.

Im Zentrum von Simons Schaffen steht der Mensch, dessen Biografie etwas über die Welt aussagt und sie redet mit allen – ob Gleichgesinnten oder Andersdenkenden. Und bei allem Verständnis für den jeweils journalistisch Porträtierten und dessen Werdegang – Jana Simon bezieht Position: Während z.B. die beiden Friedensvermittler – der Amerikaner David Gorman und der Franzose Romain Grandjean – Kriegsparteien an einen Tisch zu bringen versuchen, um Kriege und Konflikte zu verhindern, steht für sie Alexander Gauland für das, „was uns von einander trennt“. Trotzdem gilt es, so Simon, in ihm den Menschen zu sehen.

Im Weiteren schildert sie, was den beiden Polizisten Mario Melzer und Thomas Matczak widerfahren ist, als sie sich – ohne Rücksicht auf Konsequenzen – für die Aufhellung des NSU-Komplexes einsetzten und zumindest einer von ihnen mit tiefgreifenden Folgen nicht nur für seine berufliche Existenz zu kämpfen hatte. Für Jana Simon sind diese beiden Menschen Beispiele, wie man sich mit Anstand Konflikten stellt und auch bereit ist, Nachteile auf sich zu nehmen.

Neben den einzelnen Schicksalen in ihren Reportagen bzw. in ihrem Buch durchzieht die Rede die Frage, wie Journalismus heute sein sollte in einer Situation, wo als pauschale Vorverurteilung ganz schnell von Systemmedien oder etablierter Presse die Rede ist. Sie treibt die Frage um, wie man mit Menschen ins Gespräch kommt, die sich nicht mehr erreichen lassen wollen. Für Jana Simon müssen Medien ausgewogen berichten, es geht um Differenzierungen und gegen ein Schwarz-Weiß-Schema, dass das Grau, verstanden als Zwischentöne, aussperrt. Dabei fragt Simon auch nach den Ursachen für dieses kolossale Missverstehen. Neben einer Radikalisierung bestimmter Menschgruppen deutet sie dabei auch einen falschen Umgang – in Politik und Medien – mit den Fragen gerade dieser Menschgruppen an. Dieses habe mit dazu beigetragen, solche Konfliktfelder zu entwickeln. Für sie ist aber ein Verharren in dieser Situation oder auch nur das Konstatieren keine Lösung. Vielmehr bedarf es eines von gegenseitigem Anstand und Respekt geprägten Umganges, verbunden mit Offenheit für den Anderen im Kleinen wie im Großen. Es müssen gesamtgesellschaftliche Gesprächsplattformen geschaffen oder – wo in Ansätzen vorhanden – erhalten und weiterentwickelt werden. Es bedarf, so Jana Simon, eines unvoreingenommenen Dialogs, bei dem man sich gegenseitig zuhört und weniger darauf schaut, was der andere repräsentiert. Nur so sei Demokratie überlebensfähig!

Bedarf es einer neuen „Zeit runder Tische“?

In der anschließenden Diskussion (Bild 4), die wie immer zu kurz war, ging es um eine Vielzahl von Themenkomplexen. Auf ausliegenden Zetteln konnte das Publikum Fragen an das Podium geben, die Michael Hametner moderierend an die Rednerin herantrug. Gleich anfangs wurde die Frage gestellt, was man denn nun mit Menschen tun soll, die sich dem Dialog, dem Gespräch verweigern. Jana Simon berichtet aus eigenen Erfahrungen heraus von solchen Situationen und meint, das sei mitunter sehr schwer und kompliziert, aber man darf nicht aufgeben und muss es immer wieder versuchen. Denn, so Simon, was wären die Folgen oder die Alternative auf einen ausbleibenden Dialog? Auf die Nachfrage zur Person von Alexander Gauland und dessen Agieren betonte die Rednerin nochmals, anknüpfend an die Beantwortung der vorhergehenden Frage, dass sie das Gefühl hatte, Gauland als zweifache Persönlichkeit kennen gelernt zu haben, zum einen als Menschen, der im persönlichem Gespräch zugänglich ist und zum anderen als Person, die auf der politischen Bühne agiert. Hier gäbe es für sie gravierende Diskrepanzen, trotzdem, getreu ihrem Credo, war das Miteinandersprechen, war die über längere Zeit andauernde Begleitung und das Kennenlernen von Alexander Gauland wichtig.

Später betonte sie, dass der redliche Umgang miteinander – trotz aller realen Widrigkeiten – eine Vision, ein Idealzustand sei, der gelebt werden müsse. Sie erinnerte an die in der Rede erwähnten Friedensvermittler, die trotz vieler Rückschläge, weitermachen. Auf die Ursachen für die zu konstatierende Blockbildung in vielen Ländern Europa, aber auch in den USA angesprochen, gäbe es viele Ursachen, von sozialen Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft, über einen doch vorhandenen Wohnstand, der letztendlich nicht glücklich mache, bis hin zu einem propagierten Individualismus. All dies und der damit verbundene Druck seien Gründe, warum sich Menschen z.T. nicht mehr angenommen oder verstanden fühlten. Dies wende sich dann ins Politische, wo lautstark der Protest artikuliert wird. Hinzu kommen die sozialen Medien, deren Funktionsweise die schnelle, mitunter zu schnelle Artikulation zulassen. Hier wäre öfters ein Innehalten und Überlegen angebracht, ehe man sich emotional aufgebracht und übergriffig äußere. Insofern sah es Jana Simon, anders als Hametner, als gerechtfertigt an, wenn bei Überschreiten bestimmter Anstandsgrenzen bis hin zu Drohungen Kommentare oder Äußerungen, auf die das zutrifft, gesperrt werden. Insgesamt gehe es um eine gesamtgesellschaftliche Verständigung, ja – und da waren sich die beiden Diskutanten einig – um eine neue „Zeit runder Tische“, an denen man sich gegenseitig zuhört, um Probleme der Gegenwart zu lösen. In diesem Zusammenhang sei eine Anmerkung gestattet: Vielleicht sollte bei Publikumsbeteiligung wieder mehr zur direkten Kommunikation zwischen Podium und Publikum übergegangen werden. Dies würde die Debatte einfach lebendiger gestalten. Nicht unerwähnt bleiben darf die musikalische Umrahmung, mit der die junge Violinistin Gioia Großmann aus Radebeul die Zuhörer zu erreichen wusste.

Für die, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten

Wem es nicht vergönnt war in Kamenz bei der Rede dabei zu sein oder der sie sich noch einmal in Ruhe anhören möchte, dem sei zum einen der Radiosender „MDR Kultur“ empfohlen, wo am 22. September 2022, 22 Uhr die Kamenzer Rede von Jana Simon ausgestrahlt wird. Zum anderen wird die Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption die Rede „Was uns noch zusammenhält“ von Jana Simon in ihrer Schriftenreihe „Kamenzer Reden in St. Annen“ – voraussichtlich im November – veröffentlichen. Es bedarf also noch etwas Geduld.

Thomas Käppler

15.09.2020

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