Interview des OB zu Corona und Grundrechten

Interview des OB zu Corona und Grundrechten

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

die „Corona-Zeit“ betrifft uns alle und so hat dankenswerterweise der Lokalredakteur der Sächsischen Zeitung, Reiner Hanke, mit mir ein Interview geführt, das in der Ausgabe der Sächsischen Zeitung in der abgestimmten Form am 08.05.2020 erschienen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich aus der Veröffentlichung in der Sächsischen Zeitung, einer Tageszeitung, zwangsläufig Beschränkungen zum Umfang ergeben. Dies ist objektiv so und einfach dem Format der Tageszeitung geschuldet. Von daher haben Sie auch die Gelegenheit, die von mir gemeinte Breite der Betrachtung kennenzulernen. Sie haben nun die Möglichkeit, das Interview in voller Länge nachzulesen.

Interview mit Oberbürgermeister Roland Dantz:

Wie haben Sie den Spaziergang empfunden?

Ich wollte einfach nur sehen, was läuft, um im Bilde zu sein.

Haben Sie sich mit Teilnehmern unterhalten?

Ja schon. Mit dem einen oder anderen bin ich ins Gespräch gekommen. Natürlich werde ich als OB auch angesprochen. Nur scheint mir, dass da die Meinungen zum Teil sehr „festgefahren“ waren. Auf der Straße ist dann wenig Spielraum für eine Gedankenaustausch.

Wie stehen  Sie zu den Spaziergängen, haben Sie Verständnis für eine sinkende Akzeptanz der Corona-Regeln?

Schauen wir uns doch einmal die Ausgangslage an. Vor vier bis sechs Wochen haben die Entscheider deutlich gemacht, dass sie über das Corona-Virus relativ wenig wissen. Welche Handlungsoptionen gab es denn? Es bestand die Angst, dass die Infektionsrate derartig ansteigt, dass unsere Intensivstationen „überlaufen“ und dass dann ausgewählt werden muss, wer ein Beatmungsgerät bekommt und wer möglicherweise nicht. Man hat auch deutlich gemacht, dass es bei den Kontaktbeschränkungen darum geht, Zeit zu gewinnen, um auch die Anpassung der medizinischen Versorgungsbereiche zu ermöglich. All dies wurde klar und offen ausgesprochen. Wer sich dann für den maximalen Schutz des Einzelnen ausspricht, wie dies Bundes- und Landesregierung getan haben, und damit für den größtmöglichen Schutz der Menschen sorgen will, der muss auch zwangsläufig in Kauf nehmen, dass er eine laufende Volkswirtschaft beinahe „abwürgt“. Die Alternative hätte darin bestanden, das Risiko, dass sich das Virus ungebremst ausbreitet, in Kauf zu nehmen. Stellen wir uns doch einmal die Frage, wie der eine oder andere es dann heute sehen würde, wenn das Szenario der überforderten Krankenhäuser zum Tragen gekommen wäre. Viele finden es gut, dass es so nicht gekommen ist.  Die Kehrseite ist, dass in den letzten sechs Wochen unser Alltagsleben und insbesondere das von einigen Berufsgruppen, wie Gastronomen, Inhaber von Fitnesseinrichtungen bis hin zu Dienstleistern extrem beschnitten wurde. Auch dies muss man sehen. Daran ändern auch staatliche Hilfeprogramme nichts.

Wir haben uns im Kamenzer Stadtrat ebenso klar positioniert und zur Einhaltung der Regeln aufgerufen. Wir haben allen Kamenzer Bürgern eine Grundausstattung mit Mund-Nase-Masken zur Verfügung gestellt. Ich denke es war legitim von Bund und Land, so zu handeln und zu reagieren, wie es geschehen ist. Genauso legitim ist es, anderer Meinung zu sein. Das wird unsere Demokratie aushalten. So sind auch Proteste genauso denkbar. Aber ich frage mich, ob sie notwendig sind. Wenn man sich für diesen Weg der Ausgangsbeschränkungen ausspricht, müssen die Folgen mit den Menschen eben sehr klar kommuniziert werden.

Wurde das versäumt, so dass die Akzeptanz für die Corona-Regeln sinkt?

Zunächst: Keiner kann es allen Recht machen,  das mal vorab. Wenn eben eine hohe Ansteckungsgefahr besteht oder wie vor wenigen Wochen befürchtet werden musste, dann sind unsere Möglichkeiten miteinander ins Gespräch zu kommen, mehr als eingeschränkt. Daran ändern digitale Plattformen nichts. Reden wir über Realitäten. Boris Johnson war einer derjenigen, die das Corona-Virus am Anfang - sagen wir mal so - „locker nahm“. Es ist bekannt, auch er musste als englischer Premierminister ins Krankenhaus und letztendlich in die Intensivstation „einrücken“. Nachdem er wieder entlassen worden war, gab er der englischen Zeitung „The Sun on Sunday“ folgende Information: „Es war kaum zu glauben, dass sich mein Gesundheitszustand in nur wenigen Tage in diesem Ausmaß verschlechterte. (...) Aber der schlimme Moment kam, als es 50:50 stand, ob sie mir einen Schlauch in die Luftröhre stecken mussten.“ Mit dem Virus ist offensichtlich nicht zu spaßen! Wahr ist aber auch, dass es insgesamt im Freistaat (SZ 04.05.2020)  4.731 erkrankte und davon mittlerweile ca. 4.100 genesene Corona-Patienten gibt. Die Differenz zwischen Infizierten und Genesenen wird immer kleiner. Das ist ein guter Trend. Nun stellt sich die Frage für viele Menschen, ob die ausgesprochenen Beschränkungen und der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte, der z. B. dazu führt, meinen Beruf nicht mehr ausüben zu können, mich nicht mehr frei zu bewegen; ob diese Eingriffe des Staates derzeit weiter gerechtfertigt sind. Vor 14 Tagen hätte ich durchaus strenger geurteilt als heute.

Die Spaziergänger äußerten im Gespräch die unterschiedlichsten Forderungen: Sind die Einschränkungen unangemessen, sollten Schulen,  umgehend Gastronomie … umgehend wieder öffnen und auch corona-kritischen Wissenschaftlern Gehör zu geben? Ist Corona die größte Lügengeschichte, die uns je aufgetischt wurde?

Ich kenne eine ganze Menge an Menschen, für die es wichtig ist, die unterschiedlichsten Meinungen und Argumente kennen zu lernen. Nur für Dogmatiker und Ideologen auf der einen oder der anderen Seite sind solche Ereignisse der Jungbrunnen, in dem sie sich gerne baden.

Skepsis, wenn sie so wollen, Verschwörungsthesen, machen ihre Runde. Und weil uns Corona alle angeht, nimmt die Zahl der vermeintlichen Experten, der Virologen, Epidemiologen, der „Fachleute“ rasant zu. Ich bin Bauingenieur, habe vorher weit mehr als zehn Jahre im Handwerk gearbeitet und ich muss mich – wie andere – auch auf die Meinung von Fachleuten und wie jeder Mensch auf mein eigenes Urteilsvermögen verlassen. Denn letztendlich, wem ich glaube und woran ich glaube und was für mich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Gewissheit ist, das entscheidet jeder Mensch selbst.

Was wussten wir vor Wochen über das Virus, wie gefährlich war es? Es war und ist das Anliegen, Risiken zu vermeiden. Dabei hat sich letztlich kein Minister, kein Entscheider wirklich gewünscht, dass Intensivstationen „überlaufen“. Nein, die Regierung  hat alles getan, um es zu verhindern, auch wenn es extreme Härten bedeutet, sie hat Vorsorge getroffen.  Ich kann mir nicht vorstellen, dass staatliche Verantwortungsträger Freude daran haben, Schulen zu schließen und Spielplätze abzusperren. Oder Gewerbe zu untersagen. Es ist eine Binsenweisheit, dass eine funktionierende Wirtschaft die Grundvoraussetzung für Steuereinnahmen sind. In der Zwischenzeit wissen wir etwas mehr über die Übertragungswege. Die Infektionszahlen sind nachprüfbar. Jeder kann sie dennoch kritisieren. Rückwärts betrachtet stellt sich immer die Frage: „Was ist angemessen? Hätten Bund und Land weicher reagieren können?“ Jetzt gilt: Solche Sanktionen sind mit Augenmaß und Vernunft zu verhängen. Und es kann auch berücksichtigt werden, dass in Frankreich, Bayern, Sachsen oder in der Oberlausitz ganz unterschiedliche Verhältnisse vorherrschen. Es ist wichtig, differenziert darauf zu reagieren.

Sie schlagen also angesichts der Corona-Zahlen  und sinkender Akzeptanz für Einschränkungen eine schnellere Lockerung vor?

Es sind meiner Ansicht nach zwei Dinge zu klären. Einmal greift staatliche Gewalt in unsere persönlichen Freiheiten ein. Und zum anderen ist eine Gefährdungslage, wie sie vor sechs Wochen möglicherweise angenommen werden musste, zumindest in Sachsen/Ostsachsen nicht erkennbar. Offensichtlich ist, dass auch in anderen Bundesländern, z. B. in Sachsen-Anhalt, diese Ansicht auch von Herrn Ministerpräsident Haseloff für mich sehr nachvollziehbar vertreten wird. An dieser Stelle zeigt sich auch, von welchem Menschenbild wir ausgehen, wenn wir den mündigen selbstbestimmt lebenden Bürger meinen, der auch genügend Empathie besitzt, für andere z. B. für Ältere  - die eher gefährdet sind – einzutreten. Dann können wir auch vernünftig, z. B. unter Einhaltung von Abständen, dem Tagen von Mund-Nase-Masken, mit Risiken umgehen. Wir können auch dann damit umgehen, wenn Verstöße aus diesem Verständnis des Menschenbildes, der eigenen Selbstbestimmung heraus, sanktioniert werden.

Natürlich will  keiner eine zweite Corona-Welle erleben. Wenn diese kommen sollte, dann versteht der mündige Bürger auch, wenn neue Entscheidungen nötig sind. Wir sind gut beraten, auf das Verstehen und auf die Akzeptanz des mündigen Bürgers zu achten. Und wir sind auch gut beraten, den Eindruck der Bevormundung genauso wie den absoluten Blick auf das Ich und nicht das Wir zu vermeiden. Im Moment schaukelt sich eine Art von Bevormundung hoch, was durch die Frage, ob das Kontaktverbot, dass sich nur Angehörige zweier Haushalte wieder treffen dürfen, eher noch unterstrichen wird. Selbst wenn die Lage immer noch fragil ist, zeigt sich doch, dass wir mit dem Virus leben müssen. Die Lage kann sich, ob wir es wollen oder nicht, tagtäglich ändern. Fakt ist, insbesondere ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und vor allem Patienten in Krankenhäusern und Pflegeheimen müssen geschützt werden.

Viele Spaziergänger kritisierten die Einschränkungen  des Grundgesetztes, das Versammlungsverbot. Sie sehen das auch kritisch. Wie stehen Sie dazu?

Die Versammlungs- und  Meinungsfreiheit, die jedem Menschen zustehen, sind Grundrechte. Eingriffe sind immer wieder neu zu rechtfertigen. Ich bedaure es, dass in der Kommunikation in der Corona-Entwicklung  im Zuge der Lockerung, der Eindruck erweckt wurde, dass im gewissen Sinne „generös“ wieder etwas erlaubt wird.  Es handelt sich um Persönlichkeitsrechte, wenn Sie so wollen Menschenrechte, und die Einschränkung derselben ist zu rechtfertigen, nicht anders herum. Dieses Verständnis sollten wir kultivieren. So sehe ich auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Az: 1 BvQ 37/20 und 1 BvR 828/20)  zu Demos in Corona-Zeiten. Das Gericht pocht sehr nachvollziehbar auch in der Coronavirus-Krise auf die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit. Es sei aber auch kein Freibrief für jedes denkbare Verhalten. Die Spielregeln, die Grundlagen der sächsischen Corona-Schutzverordnung, wie die Abstandsregeln, gelten für jeden.

08.05.2020 - 27.05.2020

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