Clemens Meyer - 10. Kamenzer Rede in St. Annen

Filmbericht über die Veranstaltung von LAUSITZWELLE

Der Schriftsteller Clemens Meyer hielt die 10. Kamenzer Rede in St. Annen

Vom poetisch-spielerischen Umgang mit Sprache als Hoffnung

Nach zehn Jahren muss man einfach feststellen, dass ohne die Kamenzer Reden in St. Annen dem Kamenzer Kultur- und Literaturleben etwas fehlen würde. Vor einem Dezennium wurde diese Veranstaltungsreihe durch die Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption ins Leben gerufen. Diese Institution wird dankenswerterweise vom Freistaat und Bund gefördert und ist eine für die Bundesrepublik Deutschland einzigartige Einrichtung, die ihren Sitz in Kamenz (Wo sonst?) gefunden hat. Sie ist dem Erbe der Aufklärung und Lessings verpflichtet und leistet wissenschaftliche Arbeit in Form von Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen. Darüber hinaus geht es – ganz im Sinne von Aufklärung – um die Herstellung von Öffentlichkeit und die dort ausgetragenen gesellschaftlich relevanten Themen und Debatten. Dazu unterbreitet die Veranstaltungsreihe „Kamenzer Reden in St. Annen“ Angebote – und man kann es nicht anders sagen: der Arbeitsstelle bzw. dem sie begleitenden Wissenschaftlichen Beirat ist es erneut gelungen, einen prominenten Autor für diese literarische Reihe zu gewinnen, der sich würdig in die Reihe früherer Rednerinnen und Redner einreiht. Clemens Meyer ist schon mit mehreren Werken an die Öffentlichkeit getreten: Zuletzt mit einem schmalen Buch „Über Christa Wolf“. Es ist eine Art Rettung im Lessingschen Sinne dieser zu Unrecht von einigen mit dem Attribut „Staatschriftstellerin“ belegten DDR-Autorin, die aber schon zu Lebzeiten nicht auf das damalige Staatsgebilde festgelegt werden konnte. Dazu war ihr Zugriff auf Gesellschaft und Literatur viel umfassender, viel menschheitlicher.

Zunächst begrüßte Oberbürgermeister Roland Dantz und freute sich über das „volle Haus“. In Zeiten von Dissonanzen, wo Meinungen im politischen Raum hart aufeinanderprallen, sei gerade dieses Veranstaltungsformat eine Chance, das Gehörte zu besprechen. In einem Gleichnis, bei dem ein Großvater seine Lebenserfahrungen und -prinzipien an seinen Enkel weitergibt, wird deutlich, dass es die Verantwortung jedes einzelnen Menschen ist, ob er dem Prinzip des Bösen Vorschub leistet oder für das Gute eintritt. Im Rahmen dieser Konstellation sei er, so der Oberbürgermeister, gespannt, was unter dem Thema „Indianer in Sachsen – Über Mythen + Albträume“ von Clemens Meyer zu erwarten sei.

Im Anschluss daran führte der langjährige Moderator Michael Hametner – ihm und dem Wissenschaftlichen Beirat der Arbeitsstelle hatte der
Oberbürgermeister in seinen Begrüßungsworten ausdrücklich gedankt – kurz in das Leben und Schaffen des abendlichen Redners ein. Er erwähnte die Bibliothek des Vaters von Clemens Meyer, die eine Grundlage für seine Literaturaffinität gewesen sei, aber zugleich auch dessen Gang in das wirkliche Leben, jobbte doch Meyer nach seinem Abitur drei Jahre lang auf dem Bau. Damit verbunden sieht er zwei Grundprinzipien bei Meyer am Werk: Authentizität und Kunstfertigkeit. Nach Meyer selbst ist Literatur ohne Erfahrung nicht möglich. Aber, so möchte man hinzufügen, Erfahrung ist nicht alles bzw. wird nicht automatisch zu Literatur, wenn sie nicht verdichtet wird in Form. Gerade dazu habe sich Meyer in dem schon erwähnten Buch „Über Christa Wolf“ auch bestimmter Traditionslinien – u.a. der des von ihm geschätzten Dichters Wolfgang Hilbig – aus der Zeiten vor 1989 und darüber hinaus vergewissert, nicht im Sinne einer Apotheose, sondern im Sinne, was bleibt und was ist es wirklich wert, „aufgehoben“ zu werden. Auch unter diesem Aspekt sei er gespannt auf die Rede von Clemens Meyer.

Und die hatte es in sich. Denn wer geglaubt hatte, es würde ein erbaulicher Abend werden, der sah sich „getäuscht“. Nach einem Prolog über den Auftritt eines Schauspielers als Indianer 1962 in Zagreb anlässlich von Filmaufnahmen – es dürfte eine Karl May -Verfilmung gewesen sein –, der durch seine Anwesenheit unverstanden zu einer gewissen Aufruhr führte und mythisch – nachgesagt – den Beschuss von Zagreb im Jahr 1995 vorwegnahm, konstatierte Meyer, dass er „keine Rede halten kann“, weil er keine Meinung habe –, deswegen, könne er keine Rede halten. Für ihn sei es heute ein „Privileg, keine Meinung zu haben“. Das klingt – im Rahmen einer Rede – dann doch paradox. Gemeint ist von ihm eine unüberschaubare Meinungsmauer, die kein wirkliches Gespräch mehr will, Fakten nicht zur Kenntnis nehmen kann oder nimmt. Meyer rettet sich, in dem er ausführt, nur noch in Chiffren zu sprechen. Chiffre ist eine literarische Stilfigur, die nur aus dem sie umgebenden Zusammenhang her deutbar ist und – da verrätselt und offen – einen großen Interpretationsraum anbietet. Eigentlich war dies auch das Leitmotiv für diese intellektuell fordernde, aber auch vergnügliche Rede. Sie spannte den Bogen von Karl May („Er war kosmopolitisch.“) und dessen derzeit von einigen Sprachpuristen kritisiertem Werk, hinzu zum DEFA-Chefindianer Gojko Mitic und den damit verbundenen Indianerkult in der DDR, auch als geschickte Entziehung vor ideologischen Zumutungen und Zwängen, über Klischees über Sachsen und das Migrations- und Rassismusproblem  („Zeckenmetapher“) – vor und nach 1989 in Ost (Wehrerziehung) und West –, weiter zu den unerfüllten Demokratiehoffnungen („Meinungsvielfalt“), zur Bedeutung von Kunst und Literatur heute, des Umgangs der Menschen miteinander, Kapitalismuskritik  – es war ein Panorama, ein Schreckensszenario der Dissonanzen des gegenwärtigen Lebens. Natürlich fehlten nicht die Hinweise auf die z.T. abstrusen Gender-Diskussionen, auf sozialen Schräglagen oder die zerstörerische Kraft der digitalen, „sozialen“ Medien. Es sollte aber kein Potpourri, keine kunterbunte Mischung aller aktuellen Problemlagen als Zeichen kritischen Literatentums sein. Vielmehr verdeutlichte es die Überanzahl der Krisen, die den Menschen, die Menschen überfordern und zu einer, so Meyer „Grundmüdigkeit“ führen.

Erleichterung und Amüsement brachte eine vom Redner selbst intonierte Strophe aus dem Lied „Ein Wigwam steht in Babelsberg“ – die Älteren können sich sicherlich noch erinnern. Die Chiffren-Rede von Clemens Meyer auch nur in Ansätzen wiedergeben zu wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen, zu dicht, zu offen, zu einzigartig, um sie „zu übersetzen“ oder mit anderen Worten darzustellen. Man muss dabei gewesen sein in der Klosterkirche oder – und das sei auf alle Fälle angeraten – die Veröffentlichung in der Schriftenreihe „Kamenzer Reden in St. Annen“ abwarten, um sie dann zu lesen. Es mag die Authentizität des Ortes fehlen, die Kunstfertigkeit des Textes wird man erfahren und erkennen.

Für Meyer befinden wir uns in einer Phase „nach der Literatur“, wie wir sie kannten und auch schätzen. Die Selbstgewissheiten sind hin. Heutige Literatur, die diesen Namen verdient, kommt nicht mit der Überzeugung daher – wie vormals vielleicht die Dichter und Denker als moralische Instanz –, klare Lösungen anbieten zu können. Die Nicht-Rede von Meyer, war ein Ringen mit sich selbst und arbeitete inhaltlich tastend mit Fingerzeigen (Lessing) und Anspielungen, so dass man als Zuhörerin oder Zuhörer hochkonzentriert sein musste. Meyer plädierte, hier und nachfolgend seinen Dichterkollegen und Freund Stan Nadolny aus einer vormaligen Kamenzer Rede zitierend, für „eine effiziente Mischung aus Seelenruhe und Wachheit“, eine „neue Gelassenheit“ angesichts der permanenten Dramatisierungen bis hin zur Hysterie. Wie sie entstehen soll? „Durch Gespräche“, so Meyer (alias Nadolny), „ohne Überheblichkeit, durch Literatur, die Menschen die Augen für Menschen öffnet, durch eine Schulbildung, die das ebenfalls leistet …“

Clemens Meyer endete seine fulminante Rede, denn es war am Ende trotzdem eine, mit den Worten: „Lassen wir die Stimmen verklingen. Lassen wir das Kriegsgeheul verklingen, kehren wir in unsere Wigwams zurück und hoffen auf bessere Zeiten in Sachsen und anderswo.“

Leider wollte im Anschluss daran ein Gespräch zwischen Autor und dem Publikum nicht so recht vorankommen. Da mag die schwül-warme Atmosphäre in der Kirche nur ein äußerlicher Grund gewesen zu sein. Vielmehr war es vielleicht die literarische Art der Redeweise, die Meyer angeschlagen hatte, und die Vielzahl der angerissenen Problemstellungen, die das anwesende Publikum in diesem Moment überforderte. Auf die Frage, ob nicht der Rückzug in den Wigwam zu wenig sei, präzisierte Meyer, dass er es mehr im Sinne von „Geh nach Hause und denk nach!“ gemeint habe, als eine Art des Innehaltens. Und mit seiner typischen Ironie erweiterte Meyer den Ort des Innehaltens dann noch – vielleicht überraschend – auf die Kneipe.

So blieb es bei dem Dialog zwischen Clemens Meyer und Michael Hametner, der die einzelnen Aspekte des Vortrages vertiefte. So wurde deutlich, dass Meyer die Erarbeitung seines Wortbeitrages nicht leicht gefallen ist angesichts der Lage der Welt, der vorherrschenden Meinungsflut und der damit an ihn als Autor verbundenen Ansprüche. So ging es um die von ihm als lästig und bedrohlich empfundene Digitalisierung. Er verweigert sich den sozialen Medien. Im Prinzip teilte er eine Grundstimmung der Ratlosigkeit, des Nichtwissens, wie es mit der Welt weitergeht, was aber für vielleicht nur eine Phase des Übergangs ist. Die Charakterisierung „Kulturpessimismus“ scheint da nicht weit weg zu sein. Vielleicht gäbe es aber, mutmaßte Meyer, immer ein Auf und Ab in der Entwicklung und außerdem, so lange es Literatur – Fiktionen –, so lange es Buchmessen, die Dresdner Reden, aber eben auch die Kamenzer Reden gäbe, so seine Hoffnung, sei nicht alles verloren. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.  

Nicht unerwähnt bleiben darf die künstlerische Umrahmung von Daniela und Stephan Lenk, die mit Jazz-Variationen u.a. von Dave Brubeck und Paul Desmond den Abend stimmungsvoll zu begleiten wussten.

Für die Rede von Clemens Meyer ist geplant, sie in der Schriftenreihe der Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption zu veröffentlichen. Sobald der Zeitpunkt feststeht, wird darüber informiert werden.

Thomas Käppler

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